Gefüge bestimmter Grundwertauffassungen und Ordnungsvorstellungen über die menschenwürdige Gestaltung der pluralistischen Leistungsgesellschaft, in der sich die Selbstverwirklichung des modernen Menschen zu vollziehen hat. Diese Lehre, die in ganzheitlicher Ausrichtung die zeitgemäße soziologische Grundlagenforschung und sachrational-naturrechtliche Begründung ebenso umfaßt wie die sozialphilosophische Grundlegung und ständige Rückorientierung aller Ordnungsüberlegungen an den Normen des christlichen Sittengesetzes, wird seit über hundert Jahren vom Lehramt der katholischen Kirche vorgelegt. Im Unterschied dazu enthält die auf evangelischer Seite entwickelte christliche Sozialethik jene Weisungen, die dem Menschen im gefallenen Zustand von der Bibel her als verpflichtend zugesprochen werden (Sola-scriptura-Prinzip). Inhaltlich gesehen umfaßt die christliche Soziallehre in erster Linie die offiziellen kritischen Stellungnahmen des kirchlichen Lehramts zur sozialen Frage. Es liegen bisher seit 1891 (»Rerum novarum«) zehn päpstliche Sozialenzykliken vor. Sie werden ergänzt durch regional geprägte Sozialanalysen engagierter Sozialwissenschaftler sowie durch Grundsatzerklärungen des organisierten Verbandskatholizismus. Obwohl nicht lehrbuchhaft-systematisch aufgebaut, ist die christliche Soziallehre dennoch als ein festgefugtes, weit ausgebautes Ganzes mit der Tendenz zu langfristiger Kontinuität zu verstehen. Sie hat die zeitgemäße Anpassung und Ergänzung der Grundsatzerklärungen zur Voraussetzung. In ihrem Forschungsobjekt kommt sie weitgehend mit den modernen Naturwissenschaften überein. Grund und Berechtigung der christlichen Soziallehre liegen nach kirchlichem Verständnis in der Erfahrungstatsache, dass der Mensch als Geist-Leib-Wesen in seiner personalen Entwicklung und sittlichen Bewährung nachhaltig von den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen und Umweltbedingungen geprägt wird. Die Verantwortung für den ungeteilten Menschen veranlaßt daher die Kirche, auch zu gesellschaftlich-sozialen Verhältnissen autoritativ Stellung zu nehmen. Hinzu kommt die Überlegung, dass alle Probleme unserer gesellschaftlichen und staatlichen Dringlichkeitsordnung ohne Ausnahme sowohl in ihrer Analyse wie auch ordnungspolitischen Bewältigung auf gesellschafts- und sozialphilosophische Grundentscheidungen zurückzuführen sind, mit denen sich die christliche Soziallehre befaßt. Von ihrer Zielsetzung her ist sie eine praktisch orientierte Normwissenschaft für die menschenwürdige Ordnung der Gesellschaft. Sie geht aus von zwei in sich selbständigen Erkenntnisquellen: der Vernunft als Fundament der Sozialphilosophie und dem Glauben als Norm sozialtheologischer Begründungen. Diese sozialphilosophische Grundlegung der Lehre, die sie für alle annehmbar machen soll, ermöglicht erfahrungsgemäss die ordnungspolitische Zusammenarbeit auch mit Politikern, die eine primär bibeltheologische Begründung und Motivation der Lehre nicht nachvollziehen können oder wollen. Der ordnungspolitische Angelpunkt der christlichen Soziallehre liegt in ihrer Prinzipienlehre. Sozialprinzipien sind nicht abstrakte, modelltheoretische Formeln, sondern bringen wirkliche und wesentliche Sachverhalte zum Ausdruck, die das gesellschaftliche Leben bedingen und auch im gesellschaftlichen Wandel Bestand haben. Zu den wichtigsten gehören: a) Personprinzip: Es ist identisch mit dem rational begründbaren »obersten Grundsatz«, wonach der Mensch Träger, Ursprung und Ziel aller Sozialgebilde ist. Die unantastbare Würde der Person als dynamische ordnungspolitische Gestaltungsnorm für die gesamte Soziallehre bestimmt die Rangordnung der sozialen Werte, den Pluralismus des Rechts, die Vielheit gesellschaftlicher Gruppierungen und die Sinnerfüllung der Marktwirtschaft. Das maßgebliche Menschenbild der christlichen Soziallehre unterscheidet sich von allen übrigen durch die ausgewogene Zuordnung von Individualität und Sozialität sowie durch die schöpfungsgemäße Gottebenbildlichkeit als entscheidender Norm für die absolute Unverfügbarkeit jedes einzelnen. b) Solidaritätsprinzip: Formuliert das seinshafte wechselseitige Zuordnungsund Pflichtverhältnis zwischen Einzelmensch und Gesellschaft: Einer für alle, alle für einen. Die bewußte Pflege der »sozialen Tugenden« und ihrer personlichkeitsbildenden Kraft bestätigt den existentiellen Wert der gesellschaftlichen Wesensanlage als Grundnorm der Sozialethik und politischen Verantwortung. c) Subsidiaritätsprinzip: Als Grundsatz der Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Eigentätigkeit sichert es die funktionalen Voraussetzungen persönlicher Selbstentfaltung innerhalb der organisierten Gruppengesellschaft wie auch die strukturelle Gliederung der arbeitsteiligen Leistungsgesellschaft. Als freiheitliches Zuständigkeitsprinzip unterstreicht es das Recht des einzelnen zur tätigen Selbstverwirklichung wie auch die Pflicht der übergeordneten gesellschaftlichen Instanz zum ordnenden Eingriff in den privaten Aufgabenbereich, sei es als Hilfe zur Selbsthilfe (Subsidium) oder als ersatzweise Übernahme einer zu leistenden Aufgabe im Falle des Versagens des ursprünglichen Funktionsträgers. Dieses zentrale gesellschaftliche Ordnungsprinzip führt zur bewußten Ober-und Unterordnung von personaler Eigeninitiative und Gemeinwohlverantwortung unter der wesentlichen Voraussetzung, dass die Vielheit an gesellschaftlichen Rechten, Verantwortlichkeitsbereichen und Funktionen im Interesse freiheilicher Gesellschaftsgestaltung als sozialer Wert zu bejahen und ordnungspolitisch zu erhalten ist. Als Prinzip der sachgerechten Kompetenzenstreuung, das unmittelbar durch die Objektnähe, den Sachverstand und das spezielle Interesse freier Trägerschaft legitimiert wird, ist dieses Prinzip so alt wie gesellschaftliches Denken selbst. Die Personenbezogenheit als Leitnorm aller Überlegungen und Forderungen der christlichen Soziallehre bedingt folgende Schwerpunkte der Lehre: · Grundwerte und Grundrechte als Fundament von Gesellschaft und Staat; · Stärkung von Ehe und Familie als unverbrüchlicher Lebensgemeinschaft und unverzichtbarer Erziehungsinstanz; · Ethik des Privateigentums zwischen Recht und sozialer Bindung; · Würde, Recht und Ethik der Arbeit im Spannungsfeld der arbeitsteiligen Industriegesellschaft; · Aufgaben und Grenzen des sozialen Rechtsstaates und der Demokratie; · Wirtschaftliche Sachgesetzlichkeit und Wirtschaftsethik als Grundprinzipien einer sozialen Marktwirtschaft; · Öffentlichkeitsanspruch von Kirche und Christentum gegenüber dem Staat; · Internationale Verantwortung für das Weltgemeinwohl, den Weltfrieden und die Entwicklungspolitik. Literatur: Utz, A.F. (1991). v. Nell-Breuning, O. (1985)
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