Vorstellungen von Wirtschaftssubjekten über den (subjektiv) wahrscheinlichen künftigen Wert von ökonomischen Variablen (genereller: Größen), um Entscheidungen in der Gegenwart (und/oder in der Zukunft) rational bewältigen zu können. Erwartungen setzen Alternativen voraus. Weder in deterministischen Modellen (wie in einigen Varianten der marxistischen Gesellschaftstheorie) noch in völlig amorphen Strukturen, in denen jedes Ereignis möglich erscheint, hat es einen Sinn, Erwartungen zu bilden. Erwartungen sind Projektionen zukünftiger oder gegenwärtiger Ereignisse, wenn die Perzeption dem Ereignis nur mit Verzögerung folgt. Der zweite Fall deutet bereits an, dass Erwartungen generell an die Stelle von Perzeptionen treten können, wenn es für einen Entscheidungsträger (im Vergleich zu dem Nutzen relativ) kostspielig ist, sich über das Ereignis selbst zu informieren. In einem solchen Fall können sich falsche Erwartungen für eine gewisse Zeit festsetzen. a) Da die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte ihrerseits nicht direkt beobachtet werden können, wird in der traditionellen ökonomischen Darstellung ein Modell autoregressiver Erwartungen verwendet. In diesem Modell wird angenommen, dass die Erwartungen über eine ökonomische Entwicklung (z.B. die zukünftige Entwicklung der Inflationsrate) lediglich durch die Erfahrungen in der Vergangenheit anhand der zurückliegenden tatsächlichen Werte dieser Größe beeinflußt werden; d.h., die Erwartungen über diese Variable setzen sich aus einer gewichteten Summe vergangener tatsächlich eingetretener Werte dieser Variablen zusammen, wobei den Werten aus jüngster Zeit i.d.R. ein größeres Gewicht beigemessen wird als den weiter zurückliegenden Werten. Dies kann zum einen damit begründet werden, dass sich die Umwelt, in der Erwartungen gebildet werden, kontinuierlich verändert, so dass weiter zurückliegende Beobachtungen einen geringeren Erklärungswert besitzen, oder es kann postuliert werden, dass Individuen »vergessen«, also Erfahrungen diskontieren. Dieses vergangene Erfahrungen diskontierende Verhalten kann zur Zyklenbildung beitragen, wie das Lehrbuchbeispiel des Schweinezyklus zeigt. An der Hypothese der autoregressiven Erwartungsbildung wird seit Beginn der 60er Jahre Kritik geübt: · die empirischen Ergebnisse divergieren völlig, wenn unterschiedliche Gewichtungsfaktoren bei der empirischen Schätzung verwendet werden; · die (traditionelle) Art der Erwartungsbildung berücksichtigt nicht die Lernfähigkeit der Wirtschaftssubjekte, die in der Lage sind, ökonomische Zusammenhänge zu verstehen, für ihre Zwecke zu analysieren und in ihr Kalkül zur Bildung von Erwartungen mit einzubeziehen. b) Aus der Unzufriedenheit mit dem Modell autoregressiver Erwartungen ist die Hypothese »rationaler Erwartungen« entstanden, die zum erstenmal von John F. MUTH (1961) entwickelt wurde. Danach können Erwartungen dann als »rational« angesehen werden, wenn die Erwartungsbildung (Schätzung) der zu prognostizierenden Variablen auf der Basis aller Informationen, die zum Schätzzeitpunkt dem Wirtschaftssubjekt bekannt sind, durchgeführt wird. Dabei wird angenommen, dass die Wirtschaftssubjekte völlig informiert sind, d.h., sie kennen alle relevanten »Informationsmengen« einschl. der ökonomischen Modelle bzw. der dahinterstehenden Theorien. Dies bedeutet im Rahmen deterministischer Modelle perfekte (unverzögerte) Voraussicht und bei stochastischen Modellen die Identität der subjektiven Verteilung der zu prognostizierenden Variablen mit der durch das Modell implizierten tatsächlichen Verteilung für jeden Zeitpunkt. Für beide Fälle gilt somit, dass die Erwartungen der jeweiligen (sich ändernden) ökonomischen Situation unmittelbar und ohne zeitliche Verzögerungen angepaßt werden. Wenn alle Wirtschaftssubjekte entsprechend der Hypothese der »rationalen« Erwartungen handeln würden, hätte dies schwerwiegende Konsequenzen für die Möglichkeit von Wirtschaftspolitik, da z.B. alle beabsichtigten wirtschaftspolitischen Maßnahmen einer Regierung sofort antizipiert würden und somit die Regierung keine Möglichkeit mehr hätte, in das wirtschaftliche Geschehen prozeßpolitisch einzugreifen. Realistischerweise kann jedoch davon ausgegangen werden, dass jedenfalls nicht alle Wirtschaftssubjekte vollständige Informationen besitzen und dass insofern eine unendlich schnelle Anpassung auf allen Märkten auch infolge von Lohn- und Preisrigiditäten ausgeschlossen werden kann und somit wirtschaftspolitische Maßnahmen einer Regierung bei Berücksichtigung rationaler Erwartungen der Wirtschaftssubjekte in (möglicherweise abgeschwächter) Form wirksam werden. Die Bedeutung dieser Schlußfolgerung zeigt sich z.B. im Hinblick auf die Möglichkeit politischer Konjunkturzyklen, die daraus entstehen, dass eine Regierung im eigenen Wiederwahlinteresse durch den geeigneten Einsatz wirtschaftspolitischer Instrumente die wirtschaftliche Entwicklung so steuert, dass sie zum Wahlzeitpunkt möglichst günstig ist. Dies geschieht durch den alternativen Einsatz beschäftigungs- und stabilitätspolitischer Instrumente, so dass zum Wahlzeitpunkt ein Minimum von Inflation und Arbeitslosigkeit erreicht wird, dem unmittelbar nach der Wahl ein Inflationsschub folgt, dessen Bekämpfung erhöhte Arbeitslosigkeit verursacht. Wenn die Hypothese rationaler Erwartungen gültig wäre, müßten Wähler Regierungen, die politisch-ökonomische Konjunkturzyklen verursachen, durch Abwahl bestrafen, was der Empirie widerspricht, die auf die Präsenz politisch-ökonomischer Konjunkturzyklen hindeutet. Literatur: Shackle, G.L.S. (1990). Sheffrin, S.M. (1986). Attfield, C.L. (1991)
Für die Entscheidungstheorie maßgebliche subjektive Voraussagen bezüglich des Eintreffens von Zukunftsereignissen. Die Erwartungen von Personen, die Entscheidungen zu treffen haben, können sich auf das Ziel , die Wirkungen von Maßnahmen (Ergebnisse von Alternativen ) oder auch die zu erwartenden Umwelteinflüsse beziehen und dadurch betriebswirtschaftliche Entscheidungen beinflussen (vgl. das Erwartungswert-Prinzip bei den Entscheidungsregeln ).
In der Wirtschaftssoziologie: [1] expectation, im weiteren Sinne jede Annahme eines Handelnden über die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines bestimmten Ereignisses in der Zukunft.
[2] Die auf Erfahrung und/oder die Kenntnis geltender Normen gestützte Annahme, dass sich eine bestimmte Person A in einer bestimmten Situation S (z.B. in einer Diskussion, in einer bestimmten Berufsposition) in einer bestimmten, vorhersehbaren Weise verhalten wird („Verhaltenserwartung“ oder, auf die Inhaber einer bestimmten Position bezogen, „Rollenerwartung“).
[3] Expectancy, vor allem in der kognitiven Lerntheorie E.C. Tolmans das Vorwegnehmen der Ergebnisse einer eigenen zukünftigen Verhaltensweise (z.B. das Auffinden des Futters als Ergebnis des Einschiagens eines bestimmten Weges im Labyrinth durch eine Ratte). Im Gegensatz zu Erwartung im Sinne von [1] und
[2] ist Erwartung im Sinne von expectancy eine aus dem beobachteten Verhalten erschlossene intervenierende Variable, mit der nichts über das subjektive Erleben der Individuen ausgesagt wird.
Im weitesten Sinne bezeichnet Erwartung die Annahme einer bestimmten Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines vermuteten bzw. für möglich gehaltenen Ereignisses, d.h. eine subjektive Wahrscheinlichkeit, dass eine Handlungsalternative ein bestimmtes Handlungsergebnis bewirkt. Sie reicht von 0 (extrem unwahrscheinlich) bis 1 (sicher). In den Worten von S. Lersch sind Erwartungen “die vorstellungsmäßige Vorwegnahme und Vergegenwärtigung kommender Ereignisse in ihrem Bezug auf die Thematik unserer Strebungen”, die in aller Regel aus den Kenntnissen und Erfahrungen der Erwartenden abgeleitet ist.
Im engeren Sinne bezeichnen Erwartungen die an das Verhalten eines Rollenträgers gerichteten Verhaltensanforderungen. Erwartungen fungieren als Wahrnehmungsfilter, die zusammen mit
der im Kommunikationsprozess dargebotenen Information die tatsächliche Wahrnehmung der Rezipienten beeinflussen.
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