Teilgebiet einer umfassenden Geographie des Menschen mit engen Verbindungen zu den Wirtschaftswissenschaften, zur Raumwirtschaftstheorie, zur Regionalökonomie und zur Raumordnungspolitik. Nach Dietrich Bartels (1980) handelt es sich um eine "Wissenschaft von der räumlichen Struktur und Organisation der Wirtschaft und/oder der Gesellschaft sowie von deren Entwicklungsprozessen". Diese weitgefasste Definition umfasst einmal die Betonung räumlicher Struktur-und Prozessanalysen, den Raum als Forschungsobjekt sowie die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisationsformen im Raum. Sie enthält gleichzeitig die Notwendigkeit einer Erfassung und Darstellung der Einflussfaktoren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns und — nicht zuletzt den Hinweis auf die Grundelemente räumlicher Analysen: Lage, Distanz und Funktionsbezogenheit. Die Definition signalisiert damit die in den letzten Jahren als typisch, weil allgemein angesehene, integrierende Betrachtungsweise des Faches innerhalb der Regionalforschung. Historisch gesehen ist die Entwicklung der Wirtschaftsgeographie geprägt von Themen, beginnend mit der Analyse und Bewertung von Agrarstrukturen, der Bewältigung von Verkehrsproblemen über Standortanalysen und -effizienzprüfungen der Industrie und des Handels sowie zu deren wirtschaftlichen, sozialen und neuerdings auch naturökologischen Auswirkungen bis hin zu den aus solchen Wirkungsanalysen entwickelten raumordnungspolitischen Strategien und möglichen raumplanerischen Ideen und Konzepten. Grundlegende, weit über das Fach hinausreichende Ansätze stellten dabei die Arbeiten von Johann Heinrich v. Thünen (Thünen\'sche Kreise), Alexander v. Humboldt und Karl Ritter Anfang bis Mitte des letzten Jahrhunderts dar. Die eigentliche Blütezeit der Wirtschaftsgeographie lag dann zwischen den beiden Weltkriegen, mit einer Herausarbeitung einer eigenständigen Disziplin im "Grenzbereich zwischen Geographie und Nationalökonomie" (Alfred Rühl), wobei neben Rühl als namhafte Vertreter Rudolf Lütgens, Leo Waibel, Rudolf Credner, Peter H. Schmidt und Theodor Kraus angesehen werden können. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Entwicklung durch die Hinwendung zum Funktionalismus insb. von Walter Christaller (Zentrale Orte-Theorie) und Erich Otremba geprägt. Der daraus entwickelte feldtheoretische Ansatz stellt auch heute noch einen wichtigen Teil in den meisten wirtschaftsgeographischen Arbeiten dar (z. B. Stadt-Umland-Verflechtungen, Kunden-Einzugsbereiche, Regionalisierung), mit Brücken zu regional- und landesplanerischen Aufgabenstellungen und zur regionalen Marktforschung. Von der verfahrenstechnischen Seite brachte der funktionale Ansatz, unterstützt durch die Sozialgeographie, die Einbeziehung von Methoden der empirischen Sozialforschung. Neuere Forschungswege liegen vor allem. im Bereich entscheidungsorientierter Überlegungen (etwa im Bereich der Industriegeographie zum Thema Unternehmerverhalten und Standortentscheidungen sowie zum räumlichen Handeln, zum Verhältnis Staat und Unternehmen oder zu Funktionsabläufen in Behörden und Verwaltungen in Verbindung mit Dezentralisierungsbemühungen), im Übergang damit zur Organisationstheorie, zur Raumwirtschaftslehre und zur Wohlfahrtstheorie (welfare geography). So zeigte sich in den 60er und 70er Jahren eine verstärkte Hinwendung zur theoretischen Erklärung der räumlichen Ordnung der Wirtschaft bis hin zum Versuch einer Verknüpfung von Regionalökonomie und Wirtschaftsgeographie. Diesem bis heute geltenden Forschungsweg mit einer Dominanz ökonomischer Erklärungsvariablen wird seit einigen Jahren durch die welfare geography und damit durch ein Engagement für unterprivilegierte Gruppen (engagierte Geographie) zu begegnen versucht. Von den Forschungsschwerpunkten her kann für die Wirtschaftsgeographie neben einer früher vornehmlich gepflegten historisch-genetischen bzw. funktionalen Betrachtung seit fünfzehn Jahren die Ausrichtung auf planungsbezogene Studien festgestellt werden. Sicherlich zählen die Beschreibung und Analyse von Standortqualitäten bzw. die Bewertung einzelner Standortfaktoren (Standortpotential-Analytik) ebenso wie die Studien zum Verhalten räumlicher Entscheidungsträger (Standortentscheidungs-Analytik) oder zu den Wirkungen von Standorten in ökonomischer, sozialer, politischer und ökologisch-umweltplanerischer Hinsicht (StandortwirkungsAnalytik) zu den Kernbereichen der Wirtschaftsgeographie. Die Anwendung auf Fragen der Raumordnung, Raumordnungspolitik und Raumplanung machte jedoch den Wandel in Richtung Siedlungssystem- und Raumentwicklungsforschung sowie in Richtung einer regionalen Disparitätenforschung deutlich. Zahlreiche Arbeiten zur Orts- und Stadtplanung (zur Agrarstrukturplanung oder zur Stadtsanierung), zur Regional- und Landesplanung bzw. zur Arbeitsmarktforschung belegen dies ebenso wie die Diskussion um die Erfassung regionaler Disparitäten und das Spannungsverhältnis zwischen Verdichtungsräumen und peripheren Räumen. Von anderen an der Raumforschung beteiligten Disziplinen unterscheidet sich damit die Wirtschaftsgeographie (nach Bartels, 1978) durch · die Vorrangstellung chorischer Raum-Dimensionen unter Berücksichtigung der verschiedensten Sachprobleme, · die traditionell bedingte starke Beachtung differenzierter natürlicher und vor allem durch den Menschen geschaffener Bedingungen der räumlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsorganisation und durch · die faktische Betonung der empirischen Forschungstätigkeit in einer fachlich möglichst breit angelegten, den Menschen und seine räumlichen Aktivitäten in den Mittel- punkt stellenden Betrachtung. Literatur: Bartels, D., Raumwissenschaftliche Aspekte sozialer Disparitäten, in: Mitteilungen der Österr. Geogr. Gesellschaft, Bd. 120, H. 2, Wien 1978, S. 227ff. Bartels, D., Wirtschafts- und Sozialgeographie, in: HdWW, Bd. 9, Stuttgart 1980, S. 44 ff. Schätzl, L., Wirtschaftsgeographie, Bd. 1 und 2, Theorie und Empirie, Paderborn 1978 und 1981. Schamp, E. W., Grundansätze der zeitgenössischen Wirtschaftsgeographie, in: Geographische Rundschau, 1983, H. 2, S. 74ff. Wagner, H.-G., Wirtschaftsgeographie, Das Geographische Seminar, Braunschweig 1981. Wirth, E. (Hrsg.), Wirtschaftsgeographie, Darmstadt 1969.
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