Das Gedächtnis wird häufig als die Fähigkeit definiert, Ereignisse zu behalten und mehr oder weniger originalgetreu zu reproduzieren. Diese Betrachtungsweise ist aber zu eng, denn i. d. S. haben auch materielle Speicher wie Papier, Film und Diskette ein Gedächtnis. Das menschliche Gedächtnis speichert nicht nur passiv, es erfüllt zahlreiche Funktionen, z.B. Einprägen, Ordnen, Wiedergeben, und ist mit den meisten psychischen Prozessen untrennbar verbunden, z.B. mit dem Wahrnehmen, Lernen (Lerntheorie), Denken sowie den aktivierenden Prozessen (Aktivierung). Nicht zuletzt daraus resultiert die wichtige Rolle von Gedächtnismodellen für die Theorie des Käuferverhaltens. Auch in der Konsumentenforschung wurde das Gedächtnis zunächst aus einem zu engen Blickwinkel untersucht. Die klassische Gedächtnisforschung hat sich mit der Entstehung und dem Vergessen von Gedächtnisinhalten beschäftigt (Lerntheorie). Die Entstehung wird auf assoziative Verknüpfungen zurückgeführt, die durch Assoziationsgesetze erklärt werden (Wahrnehmung), z.B. durch das Gesetz der Ähnlichkeit (ähnliche Reize werden assoziiert), das Gesetz des Kontrastes (Kontrastreize werden assoziiert, z.B. schwarz/weiß) und das Gesetz der Kontinuität (Reize in räumlicher oder zeitlicher Beziehung werden assoziiert). Die assoziativen Verknüpfungen wurden experimentell untersucht. Dabei wurden die Rahmenbedingungen variiert (z. B. die zeitliche Verteilung des Lernmaterials) sowie das Lernmaterial (Wörter, Zahlen, sinnlose Silben, Sätze u.a.m.), das Lernverfahren (z.B. serielles Lernen, Paar-Assoziations-Verfah- ren) und die Meßmethoden (Reproduktion, Wiedererkennen, Wiedererlernen). Konkret: Man hat bspw. Wortreihen vorgegeben (serielles Lernen) und die Erinnerungsleistungen gemessen. Es ist festgestellt worden, dass die ersten (primacy effect, Primateffekt) und letzten Wörter (recency effect, Rezenzeffekt) einer Wortreihe besser behalten werden. Man nennt dies „Positionseffekt“. Diese Untersuchungen sind verallgemeinert und auf zahlreiche Erscheinungen übertragen worden. Bei Verkaufsgesprächen, Vorträgen und beim Ansehen von Werbeblöcken im Fernsehen sind die Erinnerungsleistungen am Anfang und Ende häufig am besten. Allerdings ist der Positionseffekt hier häufig nicht sehr ausgeprägt und manchmal gar nicht nachzuweisen. Das hängt damit zusammen, dass Größen wie Verständnis, Aufmerksamkeit und Interesse wirksam sind, die beim Positionseffekt nicht berücksichtigt werden. Neben dem Behalten ist das Vergessen von Gedächtnisinhalten intensiv untersucht worden. Es werden v. a. zwei Theorien diskutiert: die Theorie des autonomen (spontanen) Verfalls und die Interferenztheorie. Nach der Theorie des autonomen Verfalls ist das Vergessen ein passiver Vorgang, der im wesentlichen von der Zeit abhängt. Erinnerungen verblassen im Laufe der Zeit. In der Interferenztheorie wird unterstellt, dass das Vergessen ein aktiver Vorgang ist, der im wesentlichen von dem vorher (proaktive Hemmung) und nachher (retroaktiveHemmung) gelernten Material abhängt. Diese beiden Theorien werden häufig gegenübergestellt. Es spricht aber viel dafür, dass es keine alternativen, sondern ergänzende Theorien sind. Die Theorie des autonomen Verfalls wird im Marketing wenig beachtet. Vergessenskur- ven in quantitativen Marketingmodellen basieren manchmal darauf. Die Interferenztheorie kann dagegen häufig zu Erklärungen herangezogen werden. In der Werbung sind Ähnlichkeitsinterferenzen eine wichtige Ursache für das Vergessen von wahrgenommenen Werbeanzeigen. Ähnlicher Anzeigenaufbau, ähnliche Texte und ähnliche Hintergrundmotive führen zu Verwechslungen und schlechten Erinnerungen. Die Interferenztheorie beleuchtet aber nur einen bestimmten Aspekt des Vergessens. Eine umfassende Erklärung setzt eine umfassendere Betrachtungsweise des Gedächtnisses voraus. Die Gedächtnisforschung darf nicht auf Untersuchungen zumBehalten und Erinnern von Gedächtnisinhalten beschränktwerden. Die Ausweitung der Betrachtungsweise und ein Aufschwung der Gedächtnisforschung kam in den 60 er Jahren mit der Abkehr vom Behaviorismus und dem steigenden Interesse an kognitiven Prozessen. Diese Umorientierung wird „kognitive Wende“ genannt. Das Gedächtnis wird jetzt als ein Teil der menschlichen Informationsverarbeitung verstanden. Diese Betrachtungsweise hat zu einem Speichermodell des Gedächtnisses geführt, dem die Anlehnung an die technische Informationsverarbeitung anzusehen ist (Informationsverarbeitung). Der Wahrnehmungsprozeß und das Gedächtnis werden, wie das in der Datenverarbeitung üblich ist, in Speicher zerlegt und durch Informationsflüsse verbunden. Bei der menschlichen Informationsverarbeitung fließen die Umweltinformationen zunächst in sensorische Speicher, in denen sie kurzfristig aufbewahrt werden. Ein Teil der Informationen gelangt dann in den Kurzzeitspei- cher. Davon werden einige langfristig im Langzeitspeicher reproduzierbar eingeordnet. Diese kognitiven Speicher sollen näher beschrieben werden. Der sensorische Speicher ist modalspezifisch. In der Fachliteratur findet man v. a. über den visuellen (¡konischen) und den auditiven Speicher nähere Informationen (Bildverarbeitung), aber wahrscheinlich gibt es auch für andere Modalitäten sensorische Speicher. Dieser Speicher erfüllt v. a. die Funktion eines Zwischenspeichers. Kurze Zeit (meistens unter einer Sekunde) werden die gerade wahrgenommenen physikalischen Reize gespeichert, die real nicht mehr zur Verfügung stehen. Während dieser Zeit können kognitive Weiterverarbeitungsprozesse eingeleitet und durchgeführt werden. Der Kurzzeitspeicher (gedächtnis) hat eine eng begrenzte Kapazität. Die Informationen werden hier einige Sekunden gespeichert. Allerdings kann die Speicherzeit durch Memorieren (inneres Wiederholen) verlängert werden. Er zeichnet sich v.a. dadurch aus, dass in ihm Informationen kognitiv verarbeitet werden können. Sie werden bspw. miteinander sowie mit Erfahrungen verglichen und verknüpft. Man kann den Kurzzeitspeicher als den Ort auffassen, wo die Denktätigkeiten ausgeführt werden. Er wird daher auch „Arbeitsspeicher“ genannt. Der Begriff Langzeitspeicher oder -gedächtnis weist schon auf eine kennzeichnende Eigenschaft dieses kognitiven Speichers hin: Hier werden Informationen langfristig reproduzierbar gespeichert. Hierfür ist eine Speicherorganisation notwendig. Es sind verschiedene Modelle zur Beschreibung der Speicherorganisation entwickelt worden. Einen hohen Allgemeinheitsgrad haben die Netzwerkmodelle. Der Langzeitspeicher wird in diesen Modellen als ein aktives Netzwerk aufgefaßt, das Wissensstrukturen repräsentiert. Es besteht aus einer Menge von Knoten und gerichteten Verbindungslinien. Die Knoten stehen für Begriffe, Situationen und Ereignisse. Die Verbindungslinien, die nach Art, Richtung und Intensität unterschieden werden, geben die Beziehungen zwischen den Knoten wieder, bspw. Relationen zwischen Objekten und Objekteigenschaften oder zwischen Ereignissen und Ursachen. Speichermodelle haben einen hohen Komplexitätsgrad. Es ist gezeigt worden, dass in diesem Rahmen Kaufentscheidungen, Werbewirkungen und die Entstehung von Markenbekanntheit detailliert erklärt werden können. Wie bei anderen komplexen Modellen sind die Interpretationen aber mehrdeutig. Daher sind genaue Prognosen kaum möglich, und die praktische Anwendbarkeit ist beschränkt. Die Bedeutung der Speichermodelle liegt eher im theoretischen Bereich. Speichermodelle haben einen hohen Allgemeinheitsgrad, sind aber nicht allgemeingültig. Erwartungen und aktivierende Prozesse, die einen erheblichen Einfluß auf die Wahrnehmung und das Behalten haben, werden bspw. nicht ausreichend berücksichtigt. Außerdem spricht einiges dafür, dass die Speicher nicht so deutlich abgrenzbar sind wie in dem Speichermodell unterstellt wird. Dies wird in der von Craik und Lockhart entwickelten Theorie der Verarbeitungsebenen (levels-of-processmg approach) berücksichtigt. Sie geht davon aus, dass bei der menschlichen Informationsverarbeitung die wahrgenommenen Informationen nicht eine Serie von Speichern durchlaufen, sondern eine Hierarchie von Verarbeitungsprozessen. Verschiedene kognitive Speicher werden dadurch nicht ausgeschlossen, verlieren aber an Bedeutung. Die Lernleistung (Einordnung in den Langzeitspeicher) hängt nicht so sehr von der Verweildauer im Kurzzeitspeicher und den Wiederholungen ab, sondern von der Verarbeitungstiefe. Erhebliche Verarbeitungstiefe wird bspw. erreicht, wenn ein Bild intensiv interpretiert und kunsthistorisch eingeordnet wird. Dadurch werden Details langfristig behalten. Dagegen ist die Verarbeitungstiefe flach, wenn das dargestellte Bildmotiv nur oberflächlich betrachtet wird. Entsprechend hinterlassen Werbeanzeigen bei flüchtiger Wahrnehmung flache Eindrücke, die schnell vergessen werden. Beschäftigt sich der Werbeempfänger näher mit den Werbeargumenten, ist die Erinnerungsleistung wesentlich größer. Dies ist nicht neu, kann im Rahmen der Theorie der Verarbeitungsebenen aber genauer erklärt und analysiert werden. Daraus darf jedoch nicht geschlossen werden, dass Verarbeitungstiefe eine notwendige Voraussetzung für Lernen ist. Aus der Werbung ist bekannt, dass auch durch bloße Wiederholungen und flüchtige Wahrnehmungen Wer- bewirkungen erzielt werden können. Die Theorie der Verarbeitungsebenen erklärt wichtige Aspekte, ist aber auch nicht allgemeingültig und umfassend. Eine solche Theorie des Gedächtnisses kann es nicht geben, weil das Gedächtnis zu komplex ist. Die verschiedenen Theorien beleuchten nur Ausschnitte. Für das Marketing sind die skizzierten psychologischen Gedächtnistheorien relevant. In den letzten Jahren sind aber auch Ergebnisse aus biologischen und physiologischen Untersuchungen stärker beachtet worden. Bspw. hat man sich im Marketing mit den Funktionen der Gehirnhälften beschäftigt. In diesem Zusammenhang wird manchmal der Begriff „Hemisphärentheorie“ verwendet. Danach verarbeitet die rechte Hemisphäre holistische (ganzheitliche) Informationsformen, z.B. Bilder, das räumliche Vorstellungsvermögen, Musikeindrücke, gefühlsmäßige Auffassungen und Träume. Solange diese Prozesse in der rechten Hemisphäre ablaufen, bleiben sie unbewusst. Daher wird diese Gehirnhälfte vereinfachend manchmal mit dem Unterbewusstsein gleichgesetzt. Die linke Hemisphäre ist Träger der analytischen Informationsverarbeitung, insb. der Sprach- wahrnehmung und der rationalen Denkoperationen. Daraus ergibt sich auch, dass die bewussten Prozesse und damit das Bewusstsein dieser Gehirnhälfte zuzuordnen sind. Diese Forschungsergebnisse sind für die Grundlagenforschung wichtig. Sie weisen bspw. auf die Bedeutung von Musik und Bildkommunikation für die Werbung hin. Diese Betrachtungsebene eignet sich aber nicht für die unmittelbare instrumenteile Umsetzung.
Literatur: Arbinger, R., Gedächtnis, Darmstadt 1984. Baddeley, A.D., Die Psychologie des Gedächtnisses, Stuttgart 1979. Behrens, G., Werbewirkungsanalyse, Opladen 1976. Grunert, K. G., Informationsverarbeitungsprozesse bei der Kaufentscheidung. Ein gedächtnispsychologischer Ansatz, Frankfurt a. M. 1982.
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